Minimaxing ist ok
PiHalbe — 6. December 2009 - 14:19
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»Minimaxing ist doof.«
Das hört man immer wieder von allen Seiten der Rollenspielgemeinschaft. Aber warum ist das so? Was bedeutet das überhaupt?
Üblicherweise ist die eigentliche Beschwerde die folgende:
»Derundder kümmert sich überhaupt nicht darum, wer sein Charakter eigentlich ist. Er kümmert sich nur um die Zahlen und dass er möglichst gut dasteht.«
Das Problem ist also, dass das Wesen des Charakters und die (für den Spieler) effizientesten Werte des Charkaters widersprüchlich sind. Dafür gibt es drei Erklärungen:
- Das Wesen des Charakters ist vollkommen irrelevant. Der Spieler möchte eigentlich lieber ein Brettspiel oder ein Computerspiel spielen, wo es tatsächlich genau um Minimaxing geht: so gut wie möglich dastehen, vorankommen und Probleme lösen.
- Die Spielrunde geht gar nicht genug auf das eigentliche Charakterkonzept ein. Daher muss der Spieler (um konkurrenzfähig zu bleiben) die Werte vom ursprünglichen Konzept fort entwickeln. Dass er sich damit dann nicht besonders identifiziert, sollte nicht verwundern.
- Das Spielsystem ist Schrott und erlaubt es dem Spieler nicht, Werte und Charakter in Kohärenz zu bringen. Um den Charakter annähernd so spielen zu können, wie er gedacht ist, muss der Spieler das Maximum aus seinen Werten heraus holen — ohne Rücksicht auf Plausibilität. Bestes Beispiel für mich ist hier (das alte) Katharsys. Aber auch jemand, der DSA spielt, aber lieber Marvel Heroes spielen würde, leidet unter dem System.
Wie man sieht, ist Minimaxing also ein Gesamtbegriff für eine Reihe unterschiedlicher Probleme. Wenn Ihr also jemanden des Minimaxings bezichtigt, dann denkt darüber nach, ob es sich nicht vielleicht eines der oben genannten Probleme handelt.
Ich persönlich bin der Meinung, dass sowohl Gruppe als auch Regelwerk die Pflicht haben, dass ein Charakter seine starken Bereiche auch ausspielen kann (ohne sich zu verbiegen) und dass ein Charakter auch so erschaffen werden kann, dass Werte (besonders Bedeutung der Werte!) und Vorstellung übereinstimmen (gutes Beispiel: das EWS).
Wenn dies nicht gegeben ist, handelt es sich vermutlich um eine miese Spielerfahrung — für den betroffenen und dann auch für den Rest der Spielrunde. Wenn allerdings Charakter und Werte kohärent sind, dann wird sich auch niemand über das fiese Minimaxing beschweren, weil es den Charakter eben korrekt abbildet. Eine Runde aus sensibler Gruppe und passendem System hat also gar keine Minimaxing-Probleme.
Deshalb: Minimaxing ist nicht böse, es hat nur böse Ursachen.
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Kommt auf die Gruppe an
alexandro (not verified) — 6. December 2009 - 15:52MinMaxing ist nur blöd, wenn man sich nicht abspricht. Wenn die Spieler untereinander darin wetteifern, wer jetzt den krassesten Kämpfer hat und dabei Heilung und soziale Kompetenz komplett vernachlässigen, dann sind sie selber Schuld.
Ich versuche auch als SL da gegenzusteuern und den Spieler auf die "Lebensuntauglichkeit" bestimmter Charakterkonzepte hinzuweisen ("Du willst einen Kopfgeldjäger spielen, hast aber weder 'Spuren lesen', noch 'Umhören' oder irgendeine andere Fertigkeit mit der du die Spur eines Flüchtigen aufnehmen kannst? Also...das kannst du machen, aber du wirst dann wahrscheinlich der erfolgloseste Kopfgeldjäger im Wilden Westen sein."), aber wenn den Spielern das egal ist, dann diskutiere ich nicht groß mit ihnen rum.
Schick finde ich solche Systeme, die (wie bei REIGN) dem Charakter gleich ein ausgewogenes Fertigkeitenpaket verpassen, aber wenn man schon frei aussuchen darf, dann sollte man das IMO auch nutzen.
MinMaxing langweilt
Georgios (not verified) — 6. December 2009 - 22:48Was mich an MinMaxing vor allem stört, ist dass es das Rollenspiel langweilig macht. Damit meine ich nicht, dass der arme arme SL keine "Herausforderungen" mehr stellen kann.
Es ist langweilig, weil das Rollenspiel in seine Fülle auf diese Zahlenwerte reduziert wird. Ein MinMaxer sieht das gesamte Spiel ein wenig wie Neo die Welt am Ende des ersten Matrix-Films. Alles besteht nur aus Zahlen, Relationen und Ursache/Wirkung-Verknüpfungen. Das mag sicherlich reizvoll klingen, aber es geht halt zu viel der Textur des Spiels verloren. Man hat es nicht mehr mit Charakteren oder Monstern zu tun, sondern mit Informationsquellen und Gefahren. Es gibt nicht mehr an der eigenen Kraft zehrenden Reisen, sondern Ressourcenabwägungen. Statt abenteuerlicher Erlebnisse gibt es taktische Herausforderungen.
Ich finde das langweilig.
Das heißt selbstverständlich nicht, dass man die Regeln zum eigenen Nachteil auslegen muss, damit die Spielrunde unterhält. Aber ich habe immer mehr den Eindruck, dass das Taktieren auf der Regelebene (und auch das MinMaxing an sich) ein Ausweichmechanismus von Spielern ist, um sich Spielspaß zu holen, den das eigentliche Rollenspielabenteuer aus irgendeinem Grund nicht liefert.
Denn ein mächtiger Charakter ist eher in der Lage das Spiel in die Richtung zu lenken, die sein Spieler interessant und unterhaltsam findet. Wenn diese Richtung nur "schaut wie geil ich bin" lautet, dann ist das natürlich peinlich und doof. Aber wenn es in eine andere Richtung geht, dann sollte man als SL vielleicht mal genau hinhören, wohin der Spieler das Rollenspiel lenken will.
Zahlen
PiHalbe — 7. December 2009 - 10:00Ja, auffälliges Minimaxing langweilt. Da gebe ich Dir vollkommen Recht. Der "light"-Fall ist, wenn Charakter und Werte unterschiedliche Wege gehen, was vor allem bei den letzten beiden Gründen zutrifft. Dann ist aber in der Gruppe etwas grundlegend falsch — nicht unbedingt nur beim Minimaxer.
Der extreme Neo-Fall, den Du beschreibst, deutet für mich ganz klar auf Fall 1 hin. Es geht gar nicht um Charakterdarstellung, sondern um Selbstdarstellung oder Zahlen-Optimierung. So ein Spieler ist besser bei einem Brettspiel oder im Fitness-Studio aufgeboben.
Was ich ok finde ist symbiotisches Minimaxing. Wenn sich Charakter und Werte kohärent entwickeln lassen. Denn natürlich: es ist wichtig mächtige Charaktere zu spielen, die etwas entscheiden und bewirken können. Aber sie sollten sich eben nicht nur durch Zahlen definieren.
Klingt sehr sinnvoll
Drak — 6. December 2009 - 23:13v.a. gefällt mir der Fokus darauf, dass es gute Gründe für MinMaxing gibt.
Als Beispiel nehme ich mal Shadowrun (3.01d).
Wenn ich einen fähigen Charakter spielen will, muss ich Attributswerte in Bereichen über 4 haben (sonst kann ich keine hoch genugen Fertigkeiten haben). Außerdem muss ich meine Fertigkeiten massiv steigern. Damit überschreite ich schnell die Grenzen der "Legende auf den Straßen" (Fertigkeit 8), obwohl ich vielleicht nur einen routinierten Auftragskiller oder Waffenspezialisten spielen will. Nebenfertigkeiten über 1 oder 2 kann ich mir da schlicht kaum leisten.
Also ist es kein Wunder, dass die meisten SR Charaktere endcool sind. Sie müssen es sein, um in dem Regelwerk normale Runs zu bestehen. 12 Würfel sind halt doch ein riesiger Unterschied zu 6 Würfeln, zumindest wenn es darum geht, recht sicher einen Mindestwurf von 8 knacken zu können. Und andere als die Grundfertigkeiten werden selten wichtig (zumindest war das bei uns so).
Disclaimer: Ich mag Shadowrun verdammt gerne und lese mich gerade durch SR 4, das bisher sehr, sehr gut klingt (erste hundert Seiten). Es räumt mit einigen der Unsauberkeiten von SR 3 auf, aber ich weiß noch nicht genug, um es wirklich beurteilen zu können.
Meiner Ansicht nach ist dabei die Frage, ob Minmaxing Probleme bereitet, allerdings auch eine Frage der Spielbalance. Genauer gesagt: "Erzeugen die Regeln glaubwürdige Charaktere, wenn der Spieler so stark wie möglich minmaxt?" - und macht das Spielen mit solchen Charakteren Spaß?
Heißt: Wenn die Welt "ausgeglichene" Charaktere haben soll, dann sollten den Regeln nach ausgeglichene Charaktere die beste Möglichkeit zu Erfolg bieten. Denn echte Menschen minmaxen ja auch (oder ist es irgendwas anderes, wenn ein Rollenspieler Theater studiert, wo ihm sein Rollenspielen ganz klar Fertigkeitsboni gibt, oder wenn ein Filmfan Werbeprofi wird?). Wenn ein Mensch als einziges Ziel die Exzellenz im Kampf hat, dann wird sein Lebenslauf sich von dem eines geminmaxten Chars kaum unterscheiden (solange das Regelwerk "realistisch" sein will) - abgesehen vielleicht von ein paar Ausrutschern.
Vielleicht ist das auch eine Stärke von "Lebenslauf-Charaktererschaffung", bzw. Zufallsereignissen während der Charaktererschaffung. Interessant für mich wäre noch, wie wir einen entsprechenden Lebenslauf ohne echte Zufallswürfe zum "idealen Weg zum Erfolg" im Regelwerk machen können.
Vielleicht hilft es da ja schon, den Fokus von der reinen Zielerreichung (Char1 geht da hin, dann geht Char2 dahin und die Chars knacken die Arcologie) auf die Charaktere zu verschieben (Char1 geht dahin, Char2 trifft sich mit seinem Schachkumpel, und *die Spieler* schauen, ob das Schachspiel ihnen etwas über den Run verrät "die Dame übersteht bis zum Ende und wird durch einen dummen Fehler vom Bauern geschlagen - wir sollten auf unerwartete Schwächen achten", das Auto von Char3 bleibt auf dem Highway stehen, und er muss sich mit den Cops auseinander setzen, mit denen er schon immer ein Hühnchen zu rupfen hatte, ..., und am Ende steht ihnen in der Arcologie eine Wache mit Vindicator gegenüber, deren Nachname zufällig der gleiche wie von dem Cop ist - "sag mal, bist du der Bruder von ...?").
Das bewirkt allerdings einen Fokus auf das Erzählen von Geschichten und nicht in erster Linie auf die Identifikation mit den Charakteren -> Spezialisierung. Und es stellt ganz klar, dass es nicht um "Realismus" geht. In fast jedem Buch oder Film sind alle Szenen wichtig (unwichtige werden weggekürzt), also kann das auch bei Rollenspielen so sein. Das wirkliche Leben sieht dagegen anders aus.
Ein weiterer Weg ist es, die wichtigen Nebenfähigkeiten günstig zu machen, damit es sich lohnt, sie zu kaufen. Im EWS nutzen wir dafür z.B. Berufe. Damit kann ein Char alles, von dem der Spieler erklären kann, warum es zum Beruf gehört (wenn klar ist, dass der Beruf besonders viele Fertigkeiten liefert, kostet er mehr). Damit gibt ein Beruf auch all das, was einem erst später einfällt. Wenn bei dem Kopfgeldjäger steht, dass er verdammt gut in seinem Job ist (Kopfgeldjäger 15), dann ist er in allem verdammt gut, was seinen Job ausmacht, inklusive "Verhören" und "in Bars rumschnüffeln" - zumindest solange das zum Charakterkonzept des Spielers passt. Wenn er zusätzlich überragend schießen können will (18), holt er sich dazu die entsprechende Fertigkeit. Charakterisierung (Eigenschaften) gibt dabei Boni auf die Fertigkeiten, ist also auch wieder nützlich (und bei hohen Fertigkeitswerten deutlich günstiger als eine Fertigkeitssteigerung). Extra beschriebene Fertigkeiten erhalten größere Boni aus den Eigenschaften als Berufe.
EDIT: Verdammt wurde das lang :)
Ego-Minimaxing & Berufe
PiHalbe — 7. December 2009 - 10:21Genau so sehe ich das auch. Minimaxing ist an sich etwas ganz natürliches. Störend wird es nur dann, wenn es vom Charakter ausbricht. Wenn ich jetzt etwa für Coca-Cola arbeiten würde um meine BWL-Skills aufzubessern, dann würden mich wohl alle, die mich kennen, schräg angucken. Und ich würde antworten: aber bei Euch geht es doch auch immer nur um Profit. Nichts anderes als ein Barde in einem Hack'n'Slay-Setting, der voll fies und minimaxig auch seine Kampfskills steigert. Tatsächlich versucht natürlich jeder in dem was er tut effektiv zu sein und sich den Herausforderungen seiner Umgebung anzupassen.
Also: Solange sich nützliche Werte und Charakter glaubwürdig vereinen lassen (assert: wir haben einen Rollenspieler, keinen Brettspieler oder Bodybuilder), gibt es niemals ein Minimaxing-Problem, weil es nicht störend auffällt.
Berufe sind dahingehend eine tolle Art von kohärentem Minimaxing. Der Charakter kann das gut, was er gelernt hat. Das ergibt Sinn und wird daher auch niemals als unrealistisch auffallen.